Nach einem enttäuschenden Vorjahr möchte Mercedes 2023 wieder um beide WM-Titel mitfahren. Die Eindrücke der Wintertests in Bahrain geben allerdings wenig Grund zur Hoffnung. Doch für Lewis Hamilton ist es die Gelegenheit, seine Kritiker verstummen zu lassen.
Am dritten und letzten Testtag konnte Lewis Hamilton zumindest ein kleines Highlight setzen. Der Mercedes-Superstar steuerte seinen schwarzen Boliden auf Platz zwei. Ein Hoffnungsschimmer für den Saisonstart (am Sonntag, ab 14.30 Uhr LIVE & EXKLUSIV auf Sky Sport F1)?
Denn ansonsten lief die Generalprobe im kleinen Wüstenstaat auf der arabischen Halbinsel alles andere als zufriedenstellend ab für den deutsch-englischen Rennstall. Hamilton und Teamkollege George Russell hatten vor allem mit einem Balance-Problem auf der Hinterachse zu kämpfen. Der W14 brach mit einem instabilen Heck immer wieder am Kurvenscheitel aus. Die Fahrer konnten nicht früh aufs Gas gehen und hatten sichtbar mit dem Auto zu kämpfen.
Auch Zuverlässigkeitsprobleme traten zwischendurch auf, Russell rollte am zweiten Tag mit einem Hydraulik-Problem aus. Am Abend gab es dann eine Art "Krisensitzung", bei dem beide Fahrer, Ersatzpilot Mick Schumacher, Teamchef Toto Wolff und einige Ingenieure zusammenkamen und sich über die Situation austauschten. "Die Sorgenfalten waren tiefer. Die Minen sahen bei allen Beteiligten schon nachdenklich aus", meinte Sky F1-Expertin Sandra Baumgartner im Sky Podcast Backstage Boxengasse.
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W14 hat ein Balance-Problem
Die Ergebnisse dieser Gespräche sowie Nachtarbeiten am Auto haben zumindest offenbar zu kleineren Verbesserungen geführt, was auch die Hamilton-Zeit zeigt. Aber zwischen Anspruch und Wirklichkeit klafft eine Lücke. "Es ist klar, dass wir noch an der Pace des Autos arbeiten müssen. Wir werden die Zeit vor dem nächsten Wochenende nutzen, um die gesammelten Daten durchzugehen und versuchen, noch mehr Rundenzeit herauszuholen", erklärte Andrew Shovlin, Technischer Direktor von Mercedes.
Hamilton sprach bereits davon, dass das Team 2023 einen "Berg zu erklimmen" habe. Sky F1-Experte Ralf Schumacher deutete anhand der ersten Eindrücke und Aussagen der Verantwortlichen die Mammutaufgabe an, die auf Hamilton und Russell 2023 zukommen wird: "Bei Mercedes ist der Wurm drin. Das Auto war schwer zu fahren, die Fahrer haben zu kämpfen. Es wird kein einfaches Jahr für Mercedes."
Doch sieht die Lage vor dem Saisonstart wirklich so düster aus? "Die Fahrer klangen nicht so zufrieden, sie stehen nicht da, wo sie eigentlich sein wollen. Dazu gab es die Krisensitzung. Man muss aber ein bisschen vorsichtig sein, man weiß natürlich nicht, wie viel sie noch zurückhalten. Aber eine Krisensitzung ruft man ja nicht einfach so ein. Da scheint etwas nicht zu stimmen", betonte Sky F1-Kommentator Oliver Zwartyes.
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Red Bull und Ferrari zunächst wohl zu stark
In der Tat haben sich die Silberpfeile in den vergangenen Jahren immer wieder als "Weltmeister im Tiefstapeln" hervorgetan und waren bei den Tests vor Saisonstart oftmals weit hinter der Spitze zurück, weil sie sich noch Reserven aufgespart haben. Zudem gibt es auch eine sehr positive Erkenntnis von den Bahrain-Tagen: Das Bouncing-Phänomen auf den Geraden hat der W14 offensichtlich in den Griff bekommen.
Daher sieht Sky F1-Experte Norbert Haug die Situation auch gar nicht so dramatisch. "Ich sehe es nicht so schwarz, wie die Autofarbe es vermuten lässt. Es war schon oft so, dass die als Favoriten nach den Tests dann beim ersten Rennen nicht ganz oben auf dem Podium standen", machte der langjährige Motorsportchef von Mercedes beim Sky F1-Update deutlich.
Mit Blick auf die WM ist allerdings die große Frage, wo der W14 im Vergleich zur Konkurrenz steht. "Wir sind noch nicht ganz da, wo wir hinwollen, aber es ist eine gute Ausgangsbasis. Wir wissen nicht, wo wir beim Saisonauftakt stehen werden, aber wir werden positiv bleiben und weiterhin das Maximum aus uns herausholen", sagte der siebenfacher Weltmeister Hamilton. Auch Sky F1-Kommentar Sascha Roos meinte optimistisch: "Mercedes hat noch nicht alles gezeigt, sie haben noch die Möglichkeit, schneller zu sein."
Red Bull und Ferrari sind den Silberpfeilen allerdings vorerst wohl zu weit voraus. Statt nach vorne muss die deutsche Nobelmarke wohl auch einen Blick in den Rückspiegel werfen. Aston Martin und Alpine drängen von hinten. "Mercedes ist wohl zunächst drittbeste Kraft. Das lässt sich anhand der Testzeiten sagen. Im Fall von Mercedes muss man aber immer von Siegen sprechen, denn das ist der Anspruch. Mercedes muss da sein, wo die Musik spielt und das ist ganz vorne", meinte Haug zu den Zielvorstellungen.
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Mercedes muss auf Upgrades hoffen
Der große Mercedes-Trumpf heißt 2023 wohl wieder Entwicklung. Denn bereits im Vorjahr hat der einstige Seriensieger gezeigt, dass sie einen Rückstand zu Saisonbeginn im Verlauf des Jahres wettmachen können. Beim vorletzten Saisonlauf fuhren Russell und Hamilton einen dominanten Doppelerfolg in Brasilien ein und unterstrichen die Comeback-Qualitäten des Teams. Besonders die Upgrades brachten das Team nach vorne.
"Wenn man sich den Rennkalender anschaut, sieht man, dass in den ersten zweieinhalb, drei Monaten auch nur fünf Rennen auf dem Plan stehen. Am Saisonende stehen dann im gleichen Zeitraum zehn oder elf Rennen an. Diese Meisterschaft kann kein Team am Saisonbeginn gewinnen. Diese Saison wird zur Mitte hin und ganz am Ende entschieden", stellte auch Russell am Sky Mikrofon klar.
Ein anfänglicher Rückstand ist noch aufzuholen, vor allem mit einer qualitativ so starken Fahrerpaarung wie mit Hamilton und Russell bei Mercedes. Denn die Piloten können mit ihrem Feedback viel dazu beitragen, die Probleme schnell zu beheben. "Natürlich würden wir gerne schon in Bahrain um den Sieg mitfahren und am Ende ganz oben stehen. Viel wichtiger ist aber, dass wir ein Auto haben, das wir entwickeln können, um im weiteren Saisonverlauf voll da zu sein. Da gibt es dann die Big Points", so Russell.
Dafür muss das Team vor allem zunächst das eigene Auto verstehen. Das Vorjahr hat bei bestimmten Rennen gezeigt, dass der Mercedes sehr gut funktionieren kann. "Allerdings ist das Fenster, in denen er das tut, sehr klein. Kleine Veränderungen rund um das Auto haben einen großen Einfluss auf die Performance. Es muss alles zusammenkommen, damit Mercedes seine PS optimal auf die Straße bekommt", so Zwartyes.
Hamilton kann sich nun beweisen
Gefragt ist vor allem auch Hamilton. Denn der 38-Jährige hat nun die Chance zu beweisen, dass er auch ein Team, das sich seit längerer Zeit in einer Schwächephase befindet, aus dieser herausführen kann. "Es wird viel Arbeit auf ihn zukommen und er ist im Team dabei besonders gefragt. Mit seiner Erfahrung muss er Lösungen finden. Er muss das Team mitreißen und er wird dies auch mit viel Leidenschaft tun", ist sich Zwartyes sicher.
An der Einstellung wird es dabei nicht scheitern, ist sich Haug, der zusammen mit Hamilton bei McLaren-Mercedes 2008 den WM-Titel feierte, sicher: "Bei der Motivation mache ich mir beim Renn-Tier Lewis Hamilton keine Sorgen. Er glaubt an sich. Was ihm guttut, ist, dass er einen sehr starken Teamkollegen hat. Die werden sich gegenseitig aneinander messen. Und das bringt das gesamte Team voran."
Das große Ziel des Briten ist und bleibt der achte WM-Titel, dieser würde ihn zum alleinigen Rekordweltmeister machen. Hamilton hat nun die Chance, seine Klasse aus in einer schwierigen Situation unter Beweis zu stellen. Eine Situation, die er so noch nicht kennt. Und wenn es 2023 nicht mit der Meisterschaft klappt, wird er nach Einschätzung der Experten seinen auslaufenden Vertrag definitiv noch einmal verlängern, um erneut anzugreifen. Denn der Brite sprüht vor Elan.
Die Saison werden Hamilton und Mercedes auf keinen Fall abschenken. Im Zweifel wird der Fokus frühzeitig auf 2024 gelegt. Aufgrund der Position in der Konstrukteurs-WM sowie der Entwicklungsstrafe gegen Red Bull hat Mercedes bei den Top-Teams die besten Möglichkeiten und Voraussetzungen, große Sprünge nach vorne zu machen und damit auch wieder große Highlights zu setzen.
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