Vom EM-Star zur Option Nummer sechs: Das Rätsel um Sterling
14.10.2021 | 22:05 Uhr
Rund 120 Millionen Euro hat Manchester City im Sommer für Jack Grealish auf den Tisch gelegt. Eine stolze Summe. Eine Summe, die zu hoch ist, um ihn auf die Bank zu setzen. Und so sitzt Grealish seinem englischen Landsmann Raheem Sterling vor der Nase.
Doch nicht nur der neue Publikumsliebling Grealish ist in der internen Hackordnung vor Sterling angesiedelt. Auch Ferran Torres, Riyad Mahrez, Gabriel Jesus und Phil Foden werden derzeit von Trainer Pep Guardiola bevorzugt. Sterling ist in der offensiven Dreierreihe der Citizens nur noch Option Nummer sechs.
Dabei tankte der 26-Jährige im Sommer im Trikot der Three Lions ordentlich Selbstbewusstsein. Obwohl es im Verein beim jahrelangen Stammspieler der Skyblues schon in der Vorsaison nicht rund lief, vertraute Englands Nationalcoach Gareth Southgate Sterling bei der EURO 2020.
Der Angreifer bekam unter anderem den Vorzug vor Marcus Rashford, Jadon Sancho und auch Grealish. Und er zahlte es Southgate mit überragenden Leistungen zurück. Mit drei Toren ließ der Offensivstar England lange vom ersten großen Titel seit 55 Jahren träumen und führte die Three Lions bis ins Finale. Dort unterlagen Sterling und Co. Italien.
"Er ist ein Weltklassespieler und seine Torquote zeigt, dass wir Vertrauen in ihn haben sollten. Er hat seinen Wert fürs Team unter Beweis gestellt", lobte Trainer Southgate seinen Spieler. Auch die englische Presse, die Fans und Experten schwärmten von Sterlings Leistungen. "Er ist ein fantastischer Junge, er ist ein fantastischer Mensch, aber vor allem ist er ein Profi und ein harter Arbeiter", sagte Ex-Nationalspieler Rio Ferdinand gegenüber der BBC.
Doch den Schwung aus dem Sommer konnte Sterling nicht mit in die neue Spielzeit mitnehmen. In den ersten sieben Premier-League-Spielen stand der dreimalige Familienvater nur zweimal in der Startelf. Zumeist reicht es nur für Kurzeinsätze von der Bank.
"Ohne Raheem hätten wir in den vergangenen Jahren nicht so große Erfolge feiern können. Er hat einen unglaublich hohen Standard erreicht. Wir brauchen Raheem. Ich bin mir sicher, dass er noch eine großartige Saison spielen wird", erklärte City-Trainer Guardiola jüngst.
Immerhin erzielte Sterling seit 2015 in 302 Pflichtspielen 115 Tore und bereitete 89 weitere Treffer vor, gewann bisher elf Titel mit den Skyblues und ist der aktuell zweitdienstälteste Spieler im City-Kader nach Fernandinho. Doch der Katalane schenkt dem 1,70-Meter großen Flügelspezialisten derzeit nur wenig Vertrauen.
Das bleibt natürlich auch anderen Vereinen nicht verborgen. Insbesondere der FC Barcelona soll sich im Sommer intensiv mit Sterling beschäftigt haben. Fußballdirektor Mateu Alemany war im August zu Gesprächen in Manchester. Allerdings wollten die hoch verschuldeten Spanier den Vize-Europameister nur ausleihen.
Auch im Transferpoker um Tottenham-Star Harry Kane soll der Name Sterling gefallen sein. City soll seinen Spieler angeblich in einem Tauschpaket mit angeboten haben. Im Winter wird die Wechseldebatte wieder aufkochen, sollte sich an der Situation nichts ändern.
"Wenn du nicht spielst, bist du nicht glücklich", machte Sterling zuletzt selbst vielsagend deutlich. Allerdings läuft sein Vertrag beim amtierenden englischen Meister noch bis 2023. Sterlings Marktwert wird auf rund 90 Millionen Euro taxiert.
"Er war Feuer und Flamme und hat immer geliefert. Auf ihn war in den vergangenen Jahren immer Verlass, wenn City ein Tor brauchte. Jetzt sitzt er auf einmal nur noch auf der Bank. Ich bin sehr verblüfft und kann es nicht verstehen", wunderte sich Ex-United-Spieler Ferdinand im YouTube-Format Vibe.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass Sterling bei seinen Einsätzen derzeit kaum überzeugt. Lediglich ein Saisontor steht bislang für den dreimaligen englischen Meister zu Buche. Im Champions-League-Duell bei Paris Saint-Germain enttäuschte er in der Startelf.
Schwierige Phasen zu überstehen gehört allerdings zu den großen Stärken des Mannes, der in Jamaika geboren wurde. Sein Vater wurde dort ermordet, als Sterling zwei Jahre alt war. Er wuchs zunächst auch ohne seine Mutter auf, die allein nach England auswanderte. Mit fünf Jahren durfte er zu ihr ziehen und half ihr im Schulalter beim Putzen von Hotel-Toiletten.
Sportlich haben ihm vor allem die Anhänger des FC Liverpool seinen geräuschvollen Wechsel nach Manchester nicht verziehen. Auch die Fans der Nationalmannschaft sind nicht gut auf Sterling zu sprechen, denn lange galt der Angreifer als Chancentod. Nur zwei Treffer markierte er für die Three Lions in seinen ersten 45 Einsätzen.
Hetzkampagnen, rassistische Beleidigungen und viele Unwahrheiten über seine Person musste er darüber hinaus lange über sich ergehen lassen. Nach Anfeindungen bei der EM 2016 bezeichnete er sich in den sozialen Medien selbst als "der Gehasste". Laut einer aktuellen Studie des englischen Guardian ist Sterling der meistbeleidigte englische Nationalspieler.
"Raheem ist ein Kämpfer mit enormer Belastbarkeit und unglaublich widerstandsfähig", bewunderte Nationaltrainer Southgate die mentale Einstellung des 26-Jährigen.
In einer sportlich schwierigen Situation bei ManCity muss Sterling nun unter Beweis stellen, dass er den internen Kampf mit Grealish und Co. aufnehmen kann. Nur dann kann er neben Southgate auch endlich wieder Guardiola von seiner Klasse überzeugen.